Der Keil

Irgendwie hatte ich keinen Frieden, seitdem das Fakt im Kühlschrank lag. Ich hatte das Handtuch ausgetauscht, aber von der alten Dose wollte ich mich nicht trennen, ich glaub', weil ich dem Artefakt nicht untreu werden wollte. Ich meine, es war gut, dass ich manchmal hinging und das Artefakt rausnahm und es mit einem weichen Tuch putzte, wenn mir auch klar war, dass das Putzen unsinnig war, weil ich das Ding ja makellos aus dem Loch geborgen hatte, aber ich machte es trotzdem. Ich musste es ständig anfassen und überlegte, was ich mit ihm anstellen sollte. Manchmal ging ich nachts an den Kühlschrank und öffnete die Tür, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Ich konnte nichts feststellen. Manchmal ging ich in die Küche und ließ das Licht aus, ich schlich mich gewissermaßen hinein, damit das Artefakt nicht mitbekam, dass ich es ausspionierte, aber man kann sich denken, dass überhaupt nichts passierte.

Einmal kam meine Mutter vorbei, unangemeldet. Sie schwitzte, schmierte sich das Haar aus der Stirn und tüpftelte sich den Hals, und sie hatte die Taschen voller Einkaufe. Sie setzte sie auf dem Tisch ab, und ich spürte, wie aus dem Innern der Tasche ein Eishauch stieg, der einen feuchten Rand um die Kanten des Beutels legte. Und sie sagte: "Ich habe dir was zu Essen mitgebracht, willst du?" und holte sich, nicht fragend, was zu Trinken aus dem Kühlschrank. "Was machst du denn mit der ollen Dose hier?" wollte sie wissen und ich war ziemlich gewitzt und sagte, "ach, das ist eine von unseren Pflanzen, willst Du sie sehen?" und sie sagte, "nee, lass mal bleiben, es ist besser, wenn ich sie nicht sehe", denn sie wusste, dass sie mich dann melden musste, und sogar ich verstehe, dass sie das niemals macht. Wir dürfen auf keinen Fall eine von unseren Gewächsen nach draußen bringen, das gibt schwer Ärger, weil es eben gefährlich sein kann und dann ist vielleicht die ganze Forschung für die Katz. Sie hätte mich nicht fragen sollten. Seitdem sie gefragt hatte, wollte ich mich nicht mehr diesem Gedanken an die Dose widmen. Eigentlich war ich dem Artefakt böse, weil es sich mir nicht mitteilte. Ich war sauer, und es vergingen bestimmt drei Wochen, in denen der Sommer spät wurde und ich nicht in die Dose guckte. Ich verbracht jeden Tag auf der Arbeit, zweimal besuchte ich meine Mutter, der ich im Garten bei den Gemüsebeeten und mit der Heckenrose half und mit der ich im Garten auf dem gestreiften Liegestuhl Gras rauchte, während wir auf die Bucht hinaussahen. Das waren die einzigen beiden Momente, in denen ich richtig ruhig war. Sie saß so dicht bei ihr, dass ich trotz der Hitze ihre Temperatur wahrnehmen konnte, und ich brauchte nicht hinzusehen um zu merken, dass ihre Fingerspitzen, oder genauer: ihre spröden Fingernägel auf dem Holz des Liegestuhls auflagen, kratzen, wenn man genau hinhörte, wie die Zweige, die an die Ferner kratzen. Das war ein guter Moment.

Im Gewächshaus bin ich meistens sehr konzentriert, besonders, seitdem ich auch die Dokumentation mache und mehr in die Pflanzungen involviert bin, denn ich kenne mich gut mit den Pflanzen aus, aber in diesen Tagen war ich besonders darauf bedacht, keine Fehler bei den Aufzeichnungen zu machen, was mich permanent unter Stress setzte. Es hängt viel davon ab, dass man keine Fehler macht. Irgendwann hatte ich mich beruhigt und kam nach Hause, zog die Gummistiefel aus, nahm ein Bier und die Dose aus dem Kühlschrank und setzte mich an den Küchentisch und bewegte die Zehen in den Socken. Es ist draußen wirklich heiß, aber meine Füße stinken nie. Ich trank das Bier, öffnete die Dose, wickelte das Artefakt aus dem feuchteligen Tuch und dachte an nicht viel. Das Artefakt lag in meinen hohlen Händen. Mir fiel auf, dass meine Mutter auch in dem Liegestuhl sehr gestresst gewirkt hatte. Die Bewegung der Hand zu ihrem Hals in meiner Küche war auch gestresst, das war mir jetzt klar. Es war deutlich, dass ihr nicht nur sehr heiß war, und dass dieses Heiße ihr die Kehle zuschnürte. Ich glaube, sie hatte Angst. Ich war jetzt nicht mehr gestresst. Ich nahm mir vor, nicht mehr an der Schule vorbeizugehen, damit sie mehr frische Luft hätte, wenn sie aus dem Fenster kuckte anstatt mich mit Blicken wegzuscheuchen. In Gedanken nahm ich ihre Hand vom Liegestuhl und legte ein Fläschchen Nagellack hinein. Ich konnte bestimmt irgendwo eins finden. Statt an ihrer Schule vorbeizusehen, könnte ich in der Zeit häufiger in ihren Garten gehen und dort ein bisschen aufräumen, weil sie es so ungern tat. In Gedanken ging ich die einzelnen Schritte durch, die zu tun waren: die Rosen an den Fenstern zurückschneiden, damit sie vielleicht ein zweites Mal blühten, die Heckenrosen von Hagebutten befreien und diese in einem Korb sammeln, das Gras vertikutieren, die trockenen Blätter aus den Büschen nehmen, zusehen, wo sich Pflanzen mit ihren Ölen in die Quere kamen, hinterm Haus einen Essigbaum und eine Eberesche pflanzen, für den Schatten und vielleicht eine Hängematte. Die Birke macht es nicht mehr lange. Brennnessel-Maische muss angesetzt werden. Gegen die auflandigen Böen wollte ich ein paar Büsche und Gräser einbringen, damit es nicht gleich so heftig im Garten zerrte. Der Zaun musste gemacht werden. Der Stacheldraht war rostig, und in ihm verfingen sich herangewehte Wolle, Spinnennetze, totes Laub, trockenes Moos, das zwischen den Fingern knisterte, kleine verstorbene Tiere, brüchig vom Wind. Luftige Erde.

In dieser Nacht schlief ich gut.

Am Wochenende nahm ich das Fakt aus dem Tuch und mir kam eine Idee, wo es es gut haben würde. Hinterm Gewächshaus sollte seit Ewigkeiten was gebuddelt werden, aber seit Ewigkeiten passierte dort auch nichts, das war eine Stelle, die nie fertig wurde, obwohl es mit den Wasserrohren zu tun hatte, und ich nahm was von den Steinen, die dort rumlagen, Siebreste aus dem Gewächshaus, die jemand dort hin geschüttet hatte. Niemand würde sie von dem Schutt unterscheiden können, der noch im Gewächshaus rum lag. Weil das Artefakt an sich keine Gewicht hatte, musste es beschwert werden. Ich wog verschiedene Brocken in meiner Hand ab. So, ein flacher Keil, groß genug, aber nicht zu groß, mit einer scharfen Kante. Ich hatte auch Bast aus dem Gewächshaus mitgenommen. Der fiel an der Schleuse nicht weiter auf. Freitag sollte es regnen, das kündigte sich schon eine Weile an, denn die Luft war zum Schneiden dick, und ich dachte, das wäre ein guter Tag. Tatsächlich goss es Freitag wie in aus Eimern Abends gegen 9 zog ich mein graues Cape über und watete los; der Regen verdunkelte fast alles zu einer blaugrauen Wand. Dröhnendes Wasser. Kein Licht in den Häusern heute, als ob niemand daheim wäre. Unterwegs kam mir der Laborant entgegen, den ich in der Ferne an seiner groben Gestalt erkannte und wie er sich durch die Wassermassen pflügte, die sich vor seinen Stiefeln aufwarfen. Man konnte hören, wie er vor sich hin moserte. Er war immer der letzte, der das Gewächshaus verließ. Er hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Ich bog schnell zur Seite ein, wählte den anderen Weg, ehe er mich wahrnehmen konnte.

Im Gewächshaus hinter dem hohen Zaun brannte kein Licht. Der Regen trommelte auf das Glas, als ob er wütend Einlass wollte. Aber das Glas hielt stand ihm stand. Nicht aber meinem fliegenden Keil, auf den ich das Artefakt mit dem Bast festgeschnallt hatte. Ich schnippte ihn mit einer schnellen Bewegung in einem flachen Winkel in das Seitendach, wo er sich mühelos durch das Panel schnitt, als sei er dort schon längst willkommen. 1000 Mal hatte ich diese Bewegung gemacht, wenn ich Steine über das Wasser springen ließ. Ich wollte mich schnell wegducken, denn ich wusste, dass gleich der Alarm losgehen würde, aber ich konnte den Blick nicht von dem schwarzen Loch wenden, das mein Wurf ins Gewächshaus gerissen hatte.

6. September 2024