Marionette der Randzone
Mitschrift des Vortrags von Kiyotsugu Hirayama, Professor für Neurophysik und Sozialpsychiatrie an der Universität Guiyang, gehalten vor der Astrophysikalischen Gesellschaft in Lodz, am 14. Oktober 2094
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,
wie auch meine Kollegen Kibble, Gísladóttir, Örp-Kembene und Godmanis bin ich heute hier, weil ich ihre Schlussfogerungen um die Ansicht erweitern möchte, dass es sich bei dem sogenannten Ptolemäus-Phänomen um einen Ausdruck außerirdischer Intelligenz handelt. Wie Sie wissen, bin ich nicht sehr glücklich über den scherzhaften Namen, den der Abgeordnete Pri Johnson der Erscheinung in der Randzone gegeben hat. Ironie ist hier nicht am Platz. Wir haben uns vor langem von allen antiken Weltbildern verabschiedet und alle Spielarten von Paralleluniversen oder Schwarzloch-Subuniversen gedanklich durchexerziert, wir haben uns das Universum als Gottes Atem oder als Seltsame Schleife vorgestellt, und nun geben wir uns überlegen, indem wir das Phänomen mit einem Namen belegen, der unterstreichen soll, dass wir uns nicht mehr in der Spielstube der Astronomie wähnen, in der die Sonne noch um die Erde kreiste, als sich alles auf uns selbst bezog und wir die Tierkreiszeichen unserem Körper zuordneten. Leider spricht daraus keine Weisheit. Denn das Ptolemäus-Phänomen hat mehr mit diesen antiken Vorstellungen und uns selbst zu tun, als vielen von uns lieb ist.
Lassen wir einmal Revue passieren, was geschehen ist. Vor ungefähr 60 Jahren hat die Raumsonde Voyager 1 den Kuipergürtel durchquert, den interstellaren Raum betreten und Daten gesendet, die nicht nur Partikelmessungen, sondern auch stärkere Impulse unbekannten Ursprungs lieferten. Diese Impulse ließen auf zwei Dinge schließen: Erstens, dass sich eine ungewöhnlich hohe Zahl von Kleinkörpern auf das Zentrum unseres Sonnensystems zubewegt, deren Herkunftsort nur die Oortsche Wolke sein kann, zweitens (für uns das größere Rätsel), dass die Signale nur deshalb so erstaunliche und alarmierende Ergebnisse zu Tage bringen konnten, weil sie anscheinend von außen verstärkt wurden. Und heute vor 35 Jahren, als die ersten bildübertragungsfähigen Sonden die Voyager 1 überholten und den Heliosheath verließen, lieferten sie nicht nur erste Aufnahmen von jenen Brocken und Partikeln, die uns dort draußen höchstwahrscheinlich überall umgeben, sie schenkten uns auch erstaunliche Eindrücke, nämlich die Berechnung eines Spiegelsystems direkt vor unserer Tür, in irritierender Nähe, das wir offensichtlich lange ignoriert haben. Dort draußen fanden wir unseren Zwilling, ein System mit einer Sonne in seinem Herzen, mit Gesteins- und Gasplaneten, womöglich ebenso angeordnet wie unsere, mit einem Gürtel aus Urgesteinsbrocken und gefrorenen Dünsten, mit einem Asteroidengürtel. Wie konnte dieses System da draußen hinkommen, ohne dass wir es bemerkt haben? Und wie kommt es, dass dieses System so sehr dem unseren gleicht? Und, größte aller Beunruhigungen, wie kommt es, dass uns jetzt nicht alles um die Ohren fliegt, dass unsere Planeten nicht ihre Bahnen verlassen und wir aus der Welt hinausgeworfen werden? Alles im All unterliegt den großen Gesetzen, und doch scheint es da auch eine eigene aufsässige Kraft zu geben, die diesen Gesetzen nicht gehorchen will. Was vor 150 Jahren in der Literatur phantasiert wurde, hat eine Entsprechung gefunden, wenn auch eine nur entfernt ähnliche.
Was, frage ich, kann sich derart gegen das Gesetz bewegen? Es kann nur ein großer Wille sein. Dies ist immer der Ausgangspunkt meiner Überlegungen gewesen, wenn ich mir die Beschaffenheit der Wirkmächte des Ptolemäus-Phänomens vorstellte. Nur eine große Intelligenz kann dies hervorrufen. Aber das allein ist ja nur eine Arbeitshypothese. Außer, dass er erschienen ist, haben wir andere Dinge konstatiert: Ptolemäus hat sich in seinen Schwingungen auf unser Sonnensystem eingependelt. Dann kamen regelmäßig und in kurzen sequenzierten Abständen Kleinkörper in unsere Richtung, die offensichtlich einer tieferen Schicht in seinem Referenzrahmen entstammten. Weiterhin gab es winzige, aber messbare Beeinflussungen unserer Sonnenwinde – so messbar, dass sie bei einigen von Ihnen zu massiver Beunruhigung geführt haben. Ich will auch die Veränderungen im Spektralbereich erwähnen und die magnetischen Böen in unsere Richtung. Sie zeugen von einer Gerichtetheit, die ich einer intelligenten Absicht zuschreiben möchte. Und noch etliche andere Zeichen, wie sie vorhin von meinen Vorrednern in ihren Detailstudien vorgestellt wurden.
Am meisten haben uns aber die Berichte irritiert, die vom Hubble VII Teleskop auf dem Mars und vom Mars-Orbiter kamen, vom Kernforschungszentrum CERN (und der dortigen Umgebung) und von vier radioteleskopischen Stationen, darunter auch unserer eigenen FAST-Station in Dawodang. Mitarbeiter dieser Einrichtungen wurden mit Anzeichen einer schweren psychotischen Episode unter psychiatrische Beobachtung gestellt. Es geschah ihnen während ganz normaler mechanischer Vorgänge, etwa beim schwierigen Besteigen unserer Hängekonstruktionen und Gerüste, als sie lediglich ihrer täglichen Wartungsarbeit nachgingen. Keiner wies Auffälligkeiten in seiner psychiatrischen Vorgeschichte auf, alle waren sie sogar insgesamt das, was man sonnige Gemüter nennt, schwindelfrei, aber nicht nachlässig. Auch ich habe in unserer Klinik acht Patienten mit diesen Symptomen unter Observation gehabt. Bisher haben wir nur wenige Informationen über die Art der Störung nach außen dringen lassen. Dazu kann ich Ihnen nicht mehr sagen, als dass weitreichende politische Überlegungen dafür der Grund waren, unter anderem die Priorität, eine Massenpanik zu unterbinden. Menschen machen ja immer mehr die Erfahrung, dass neue Enthüllungen heutzutage immer dann kommen, wenn es schon zu spät ist – „wir und die anderen, die es besser wussten“, heißt es dann. Es ist dieses Gefühl des Ausgeliefertseins, das die breite Masse ergreift. Nun sind einige der Betroffenen, denen es gelungen ist, die psychiatrischen Zentren zu verlassen, selbst an die Öffentlichkeit getreten und haben für große Unruhe gesorgt, wie wir es eben gerade vermeiden wollten. Bisher war der Öffentlichkeit die Existenz von Ptolemäus nicht bekannt – jedenfalls nicht als Anomalie, die sich als eine Realität direkt vor unserem Sonnensystems eingefunden hat. Wir haben in Interviews und in Videoberichten von Spiegelerscheinungen gesprochen, von Verzerrung unserer Messungen, von einer Supernova, die das Auftauchen der neuen Sonne an unserem Teleskophorizont erklären sollte, usw. Aber das war ja nur Augenwischerei, um die Existenz von Ptolemäus zu verniedlichen. Denn es geht um mehr, es geht um eine Intelligenz, um Unberechenbarkeit, um Unregelmäßigkeiten der Naturgesetze; da können Sie sagen, was Sie wollen. Allen, die bis heute der Ptolemäus-Erscheinung intelligente, selbstgesteuerte Fähigkeiten absprechen, möchte ich hiermit in Erinnerung rufen, dass sämtliche Patienten, nicht nur jene in Guiyang, von den exakt gleichen Dingen berichteten. Sie konnten Auskünfte über die Beschaffenheit von Ptolemäus geben, die wir erst Jahre später durch unsere Messungen und die Erkenntnisse der Sonden bestätigt sahen. Wir gehen heute davon aus, dass sie diese Kenntnis, die sich anders nicht erklären lässt, nur durch Ptolemäus selbst erhalten haben. Das Schockierende dabei ist, dass sie dieses Wissen anscheinend quasi durch eigene „Anschauung“ haben – es stellt sich Ihnen nicht wie uns nur mittelbar dar, durch Zahlen, Messwerte, Schwingungsverhältnisse, Partikelspuren, elektromagnetisches Rauschen oder durch rekonstruierte Bilder. Sondern sie können uns bildhaft schildern, wie es dort draußen tatsächlich aussieht und wie Ptolemäus vor unserer Tür aufgespannt ist. Es ist, als ob sie in das Wesen des Ptolemäus eingetaucht sind und sie sich bewusst sind, wie bewusst er sich selbst ist. Für das menschliche Gehirn und die menschliche Psyche ist dieses Erlebnis zu ungeheuerlich, als dass wir es aushalten könnten in
seinem Ausmaß, seiner Fremdheit, seiner Monstrosität. Daher die psychiatrische Erschütterung. Als uns in unserer Forschergruppe die Natur der Psychose dämmerte, konnten wir uns nur wundern, dass unsere Patienten überhaupt in der Lage waren, ihre Erfahrung zu beschreiben und sich zu ihr zu verhalten.
Damit sind wir wieder bei der antiken Weltsicht. Da es sich um ein Spiegelphänomen handelt, finden wir die Analogien, um Ptolemäus zu beschreiben, in unserem eigenen System. Und zwar nicht in der Terminologie der Astrowissenschaften, sondern in der tiefenpsychlogischen und neurologischen Terminologie. Denn nur so können wir Ptolemäus phänomenologisch und ontologisch begreifen. Ich berufe mich bei diesem Ansatz auf die Herangehensweise von Diderot, der als der intuitivste der gegenwärtigen Astrophysiker gilt. Er ist in der Lage, die Eigenschaften von stellaren Umgebungen zu erspüren, und zwar nicht, weil er dabei einen unwissenschaftlichen Hokuspokus veranstaltet, wie ihm von Manchem trotz seiner hervorragenden Leistungen unterstellt wird, sondern weil er diese Sensibilität aufgrund seiner enormen Kenntnisse, seiner Erfahrungen, seines nahezu kriminalistischen Instinkts und seiner blitzgescheiten Auffassungsgabe ganz natürlich entwickelte und die Bodenlosigkeit aller wissenschaftlichen Kriterien erkannte. Aber sein Verfahren ist im Prinzip jedem einzelnen von Ihnen zugänglich. Ich möchte das anhand einer kurzen astropsychischen Übung veranschaulichen, bei der Ihre konkrete Vorstellungskraft gefordert ist. Alle, die hier lachen sollten, möchte ich jetzt bitten, den Saal zu verlassen. Die übrigen, die sich auf das Experiment nicht einlassen aber gerne weiter zuhören wollen, möchten bitte schweigen und urteilsfrei lediglich anwesend sein. Ich bin dann, wenn wir die Übung abgeschlossen haben, sehr interessiert zu hören, wie die anderen, die sich an der Übung beteiligt haben, auf Sie gewirkt haben. Diejenigen aber, die an dieser Stelle dieses Experiment wagen, will ich warnen, dass sie möglicherweise von Gefühlen der Unruhe und Entfremdung erfasst werden. Daraus entsteht keine unmittelbare Gefahr. Sie können jederzeit aussteigen, aber ich möchte auch Sie bitten, uns dann nicht zu unterbrechen. Ich verwende hier eine Technik, die einer klassischen Meditation ähnlich ist.
Schließen Sie jetzt bitte die Augen, setzen Sie sich ruhig und gerade hin, die Füße fest auf dem Boden, legen Sie die Hände in Ihren Schoß und atmen Sie ruhig. Sie alle haben das Modell unseres Sonnensystems vor Augen; sie sind ja alle Experten, denen ich nichts zu erklären brauche. Platzieren Sie Ihr Aufmerksamkeitszentrum auf der Erde (wo Sie sich tatsächlich befinden) und stellen Sie sich in ein räumliches Verhältnis zu den anderen Gebilden in unserem Sonnensystem. Denken Sie sich dieses Verhältnis nicht in kleinen Dimensionen, sondern denken Sie sich: „Ich bin die Erde“. Sie haben einen Umfang von 40.000 Kilometern. Fühlen Sie die Fülle.
Konzentrieren Sie sich jetzt auf die Sonne: auf den Abstand, den Sie zur Sonne haben, auf die kosmische Strahlung zwischen Ihnen und der Sonne, auf die Wärme, mit der Sie von der Sonne versorgt werden, auf die Kälte des Weltraums, auf die Bewegungen des Mondes und wie der Mond sich im Verhältnis zu Ihnen und der Sonne in Wellen um die Sonne selbst bewegt. Machen Sie sich eine Vorstellung vom Raum. Fühlen Sie dies nach. Dies Verhältnis ist Ihr Zentrum. Ich fühle dies jetzt auch. Ich erlaube mir, die Dimensionen dieser Relation in meiner Vorstellungswelt genau auszuloten. Ich leiste den dabei entstehenden Empfindungen keinen Widerstand. Ich atme ruhig und tief.
Erinnern Sie sich jetzt, ganz naiv, daran, wie Sie noch auf der Wiese saßen, Blumen in ihrer Hand zerdrückten und in die Sonne blinzelten: Als Kind gab es für mich keinen Unterschied zwischen der Erdwelt und der Sonnenwelt. Die Sonne kam zu mir, ich konnte sie auf der Wiese riechen. Aber im Reiferwerden erkenne ich die Trennung zwischen Erde und Sonne. Ich darf nicht vergessen: Ich bin die Erde, aber ich bin getrennt von meinem Zentrum. Ich werde von dort aus gespeist und habe doch keinen Kontakt zu diesem Zentrum. Ich schaue hin: Ich bin hier, und vor dem Hintergrund des Alls strahlt mir ohne Wimpernschlag mein Zentrum entgegen, brüllendes Strahlen gegen bitteres Dunkel. Was geschieht?
Spüren Sie dem nach: Das Ergebnis ist Begehren. Nun muss ich mich ausdehnen, mich über den Erdball erheben, um die Einheit wieder herzustellen. Der Begriff von meinem Selbst umfasst jetzt Erde und Sonne zugleich, aber in einer neuen Größenordnung, einer neuen Perspektive. Ich habe nun auch die Erde, wie ich sie als Kind erlebte, verloren. Ich habe in mir das Begehren, ich fühle in mir das narzisstische Paradox der Existenz, in der ich Erde und Sonne zugleich bin und mich im Begehren verzehre und sehe, dass ich doch nicht zum Objekt des Begehrens gelangen kann, das ich ja in mir selbst trage in einem doppelten Verlust. Aber ich verneine es mit aller Kraft. Ich bemerke nun, dass es um mich kalt ist, und ich suche nach Verbündeten. Dazu dehne ich mich weiter aus, ich expandiere den Begriff von mir selbst. Ich fühle dieser Suche nach, ich trete Schritt um Schritt immer weiter in den Raum hinaus. Und so berühre ich nach und nach die Orbits der Planeten und integriere dieselben, mit ihren steinigen Oberflächen und giftigen Gasen. Ich kreuze den Asteroidengürtel. Ich fühle auch dies. Ich fühle die fallenden Temperaturen und das sich weitende Feld. Ich fühle, wie ich mich aufblähe und in meinem Begehren immer mehr von dem Zentrum, das ich einmal war, entferne. Ich erreiche die äußere Planetenzone, dort, wo es so etwas wie eine wärmere Haut von mir gibt, beinahe wie eine Illusion von Körper bei 20 Grad Kelvin und bedrückender Stille. Ich schwimme ins Offene, weil die Nacht den Horizont aufgefressen hat. Was ist dahinter, frage ich mich nun. Es gibt nun nahezu nichts mehr, was ich mir einverleiben kann, nur noch Stein und Staub, dann eine große Unnennbarkeit und schließlich die große Wolke, die wir die Oortsche Wolke nennen. Dies ist der äußerste grauenhafte Bereich. Hierhin muss ich mich ausdehnen, und will es doch nicht, weil ich dahinter nichts finden, sondern mich schlichtweg im Diffusen auflösen werde; ich ahne schon, dass dies unvermeidlich ist. Ich werde nicht mehr wissen, wer ich bin. Meine Augen werden sich in ihren Höhlen drehen. Ich werde in jedem neuen Staubkorn eine neue Frage finden, und ich werde diese Frage fürchten.
Dies ist der Eindruck, unter dem ich stehe, wenn ich mich, wie Diderot es getan hat, ganz auf das System einlasse. Hören Sie gut zu und akzeptieren Sie es: Hören Sie mir zu? Sie akzeptieren es. Ich gehe nun einen Schritt weiter. Ich fasse Mut. Ich erspüre jetzt den Rand der Wolke, es gibt nichts außer mir, und in mir ist immerzu Begehren, so weit von meinem Zentrum entfernt, aber mein Auge ist klar. Ich kann den Kopf beinahe aus dem Fenster stecken. Doch ehe ich erblicke, was dort ist, nehme ich in meiner Peripherie etwas wahr. Von jenseits dringt etwas in mich ein, in tausendfachem Rieseln, das genau ist wie ich. Etwas fließt in mich hinein, rieselnd, gießend, leicht, puffig, sandig, funkelnd, perlend. Es geht ohne Widerstand in mich ein. Und es ist von einem feinen Klang begleitet, einem Rasseln von schwankendem Schilf.
Der Vortag wurde an dieser Stelle abgebrochen.