Der trudelnde Verrat

Frieda lag wach in ihrer Koje, ganz unten. Der Motor brummte unentwegt, er brummte in den Kopf hinein, mal brummte er tief, mal surrte er höher in einer komischen Quinte, die erst nach oben stieg, dann nach unten sank, ohne daß Frieda ausmachen konnte, worin der technische Zweck dieses Wechsels lag, aber alsbald lief das Hin und Her der Töne im Gleichklang mit dem Hin und Her der Argumente, die in ihrem Kopf von einer Seite zur anderen wanderten.

Es war die große Frage nach dem großen Wieso, darunter aber eine fiebrige Unruhe, dass jetzt endlich alles ein Ende habe. Wieso „endlich“? Der große, große Sommer hatte doch schon begonnen, die längste Nacht war gerade überschritten. Frieda wollte nicht, daß die Sonne wieder unterging, sie wollte die endlosen Abende im Erker mit einem angezündeten Teelicht verbringen, vor offenem Fenster, an dem die Rosen kratzten; sie wollte sich nicht in Schal und feste Stiefel kleiden, sie wollte durch die Zimmer gehen, mit den Zehen den Sand vom Teppich streichen, den sie an den Füßen vom Strand heraufgetragen hatte, und immer einen treffen, den sie Freund nennen konnte.

Aber die waren nun weg. Während dieser Satz langsam in ihr ausschwang wie eine Coda, kam von hinten etwas Neues angerollt. Die Tür stand einen Spalt breit offen, und der Gang ließ sein grünes Licht in die Kajüte rieseln. Wenn sie sich dicht zur Tür drehte, fiel das Licht genau durch ihre schimmernden Wimpern in ihre geblendete Pupille, und über ihr, draußen, lief verzerrt das grüne Männchen durch den Notausgang. Alle anderen schliefen mit dem Kopf andersherum hinten in der Kabine, dort wo nichts mehr hin drang, wo nicht einmal mehr die wüst hingeworfenen Kleiderschatten eine Gestalt annahmen. Sippsippsipp kullerte etwas Klebriges ein kleines Stück über die matte Bodenplatte. Sippsippsipp, ein kleines Stück zurück. Und ein Einhalten. Frieda spitzte die Ohren und vernahm neben der wechselhaften Maschine nur ab und zu ein sanftes Klonken im Metall, das weich geeiert aus den untersten Bereichen des Schiffes heraufschwebte, sich in ein Knirschen hineinbiegend. Kein Grund zur Beunruhigung. Über ihr und neben ihr schliefen andere und atmeten.

Sie wollte eben wieder in das Revoltieren der Argumente einsteigen, als das sippende Geräusch sich wieder in Gang setzte, diesmal glasig und hohl. Dungdungdungdungdengdengdipp und ein Atemzug, dippdippdengdengdungdungung. Wieder still. Wenn ein Freund hinausgeht und sich mit dem Feind verbündet, einem Feind, der sich einschleicht und alles von hinten untergräbt und allen den Kopf verdreht mit seiner Redekunst, wenn dieser Freund, der klug ist und hilfreich und sogar Geld hat, wenn der dann in den Garten geht oder vor das Haus und heimlich den Kopf mit dem Feind zusammensteckt, dann tut er das doch nicht unüberlegt. Er ist klug und hat deshalb gute Gründe, besonders, wenn er dann selbst einen Nachteil hat und das eigene gute Leben aufgibt. Der sagt doch nicht einfach: mir stand halt der Sinn danach.

Dungdungdungdungdengdengdipp, dippdippdengdengdungdungung. Irgend ein dummer Mensch hatte eine Flasche draußen liegen lassen, und nun, als das Schiff immer weiter aufs offene Meer geriet und seine Bewegungen kräftiger, aber auch ruhiger vorantrieben, konnte die Flasche ungeniert vor und zurück trudeln. Der Gang war sehr lang, dungdungdungdungdungdung-dengdengdengdengdengeleng-deng – dingdingdingdingdengdeng-dengdengdengdengduckduck-dock. Hinten stieß die Flasche an die Wand an und nahm den Weg zurück, an Friedas Tür vorbei. Würde sie hier anhalten? Nein, sie kullerte vorbei, aber als sie kurz ihren grünen konkaven Schattenbogen durch den Türspalt warf, hörte Frieda bei jeder Umdrehung ein einfaches kleines Kleben. Sippsippsipp. Die Flasche rollte noch eine Weile, blieb einen Augenblick liegen und kehrte dann wieder um. Und so weiter. Frieda hielt den Atem an, denn sie wußte, daß am Ende des Ganges die Treppe wartete. Die Flasche kam wieder und kam weiter links zum Stillstand; dann passierte es, langsam, klonk – klonk – klonk, in blechernem Dröhnen, daß sie eine Stufe nach der anderen hinunterplumpste. Anscheinend nahm kein anderer außer Frieda den Sturz der Flasche wahr. Die Flasche fiel gleichmäßig weiter. Bald würde sie unten ankommen, vielleicht zerklirren, vielleicht aber auch weiterlaufen, wer weiß das schon, und dann wieder einen Gang, hin und her, und dann noch eine Treppe hinab und einen weiteren Gang, und dabei in ihrem Klang immer weiter ausgeblendet werden. Aber die Flasche fiel nun nicht mehr weiter, sie hatte offenbar nicht einmal die unterste Stufe der hiesigen Treppe erreicht, denn es blieb ruhig. Frieda wartete im zähen Geruch der Nacht.

Es waren bestimmt zehn Minuten vergangen, kein Mensch hatte sich gerührt, das Schiff stampfte eifrig durch das massige Wasser, aber die Flasche ließ nichts von sich hören. Einer wird sie genommen haben, dachte Frieda, und der sitzt jetzt in seiner Kabine und bläst sich einen. Frieda lachte laut und verkniff den Mund als einer kurz aufseufzte, und sie wurde sogleich wieder traurig, weil ihr einfiel, wie Herr Kohout durch die f-Löcher seines Cellos geblasen hatte, um allerlei Töne zu verursachen. Auch er war jetzt weg. Gerade er. Sie legte langsam die rauhe Decke beiseite, strich ihr weißes Nachthemd glatt und trat vorsichtig in den Gang, mit nackten Füßen. Der ganze Korridor war völlig warm, auch das Metall, ganz anders als die Kajüte. An den Wänden schwitzte es leicht. Ihre Fußsohlen blieben bei jedem Schritt ein bißchen haften, bevor die Haus sich vom Boden löste. Sie huschte um die Ecke, nach links, wo die Treppe nach unten lag und spähte dort hinab, wenn auch dort nichts lag, keine Flasche oder sonst was. Das war jetzt so sonderbar, daß Frieda hinunter rannte, den folgenden Gang absuchte und die nächste Treppe und einen weiteren Gang hinuntersah, aber ab da wollte sie nicht mehr weitergehen. Beim Abstieg war es immer wärmer geworden, und im letzten Gang brannte kein Notlicht mehr. Dafür sah sie weiter hinten, in einer Entfernung, die sie nicht schätzen konnte, aber es waren vermutlich nur ein paar Schritte, ein rotes Viereck im Boden glühen, von dem aus die ganze Wärme heraufzustrahlen schien. Es roch scharf nach Stahl. Kein wacher Mensch weit und breit. Irgendwo oben schob wohl jemand Wache, jemand polierte und ölte womöglich Einzelteile im Mechanismus des klickenden Schiffsplanetariums, in der Kombüse schrubbte noch jemand einen Topf und auf der Brücke wurde wieder ein einsamer Skat gekloppt, vielleicht gab es auch einen Rudergänger auf Dienst und einen Maschinisten, aber hier unten knurrte der Motor in seinem wechselnden Singsang und immer stieg das metallene Klagen, das in einem leichten Scheppern verebbte, durch den Bauch dieses immensen Körpers, und niemand ließ sich blicken. Aber die Flasche war futsch.

Frieda kehrte wieder um, das Hemd in der klammen Hand. Als sie ihre Treppe emporklimmen wollte, diejenige, auf der die Flasche runtergeplumpst war, schlug ihr ein Geruch von rohem Leder, Pilzen und einer Spur Parfüms entgegen, und durch die Stufen blickte sie ein Mann mit dunklem Gesicht an, dessen blaue Augen sie hell überraschten. Frieda fuhr zurück und strauchelte. Da duckte sich der Mann unter der Treppe durch, trat zu ihr herüber und blickte an ihr herab, schmunzelnd, denn sie hatte sich auf dem Boden niedergekauert, einer Schwäche nachgebend. Es war der Mann mit dem Kamm.

„Sieh an, sieh an,“ sagte er und betrachte das, was durch das Hemd hindurchschimmerte. Sie hob den Ellbogen und strich sich verlegen eine Strähne über den Scheitel. „Sehr schön.“ Dann reichte er ihr höflich die Hand und half ihr mit kräftigem Griff hoch. „Das könnte unterhaltsam werden. Wenn du möchtest, werde ich dich auch unterhalten.“ Frieda, mit feuerroten Ohren und widerborstig: „Wer sagt denn, daß ich dich unterhalten will?“, worauf der Matrose entgegnete: „Alle möchten von Charlie unterhalten werden, und deshalb möchte auch Charlie unterhalten werden.“ Und er hob ihre Hand und senkte seine Lippen in ihre Haut, und während er das tat, kam aus seinem Mund über ihren Arm ein Geruch nach Fisch und Leder und Bitterkeit gekrochen, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Aber der Mann, der sich Charlie nannte, schien das nicht zu bemerken, im Gegenteil, er zog noch aus seiner Tasche ein Geschenk, auf jeden Fall sagte er, daß es ein Geschenk sei, und das war ein zusammengerolltes Papier, umwickelt von einer blauen Schleife, an die ein kleiner Anker gebunden war sowie ein hübscher Blauer Peter, den man in einen Eisbecher hätte stecken können, und eine Blume aus Origami-Papier. Das übergab er ihr mit erstaunlich feiner Hand. Er war viel kleiner als sie, ein bißchen untersetzt, vor allem aber stark mit einem immensen Kreuz, die Beine etwas krumm. Wenn er ging, vermutete Frieda, schlakste er seine Beine nach rechts und links, ein bißchen albern, wie das Seeleute tun, wenn sie aufschneiden. In seinem dunkelroten Haar glänzten silberne Fäden, und seine Arme waren zwei Buschtrommeln, über und über mit dunklerem Haar bedeckt, darunter eine Flut von kupfernen Sommersprossen, ein Wurf von Pfennigen, manche davon seltsam angelaufen. Frieda nahm zögernd das Geschenk entgegen. Das blaue Band war weich und glatt wie aus Maulwurfspelz gewoben. Es hatte die Eigenschaft, sich an alles zu schmiegen, womit es in Berührung kam, mit einer Zärtlichkeit, die gleichgültig war gegen alle Versuche, es vorsichtig abzustreifen und wieder an seinem Platz zu drapieren zwischen Blume, Anker und Wimpel. Ein lästiges Ding, ein liebes Ding. Zum ersten Mal ließ Frieda sich zu einem Anflug eines Lächelns hinreißen, einem winzigen Heben der Mundwinkel, einer gepreßten Kurve von Ironie. Dieser Mann war furchterregend. Charlie zog sie nun die Treppe nach oben und schob sie in ihre Kajüte. Er drückte sie fest in die Koje, und sie fürchtete sich. Aber er deckte sie nur mit der Wolldecke zu und ging, nicht ohne die Tür hinter sich zu schließen. Die Kleiderhaufen dampften.

19. February 2023